a-archives – Bibel – #Die_Bibel_in_Cohens_Liedern by Uwe Birnstein

Geboren im Herzen der Bibel

Die Bibel in Leonard Cohens Liedern

Auszug aus:

Uwe Birnstein: „Hallelujah“, Leonard Cohen! Wie Leonard Cohen Gott lobte, Jesus suchte und unsere Herzen berührt. Verlag Neue Stadt, München Wien Zürich 2020. 132 S., mit teilweise erstmals veröffentlichten Schwarz-Weiß-Fotos € 16,-

Alle Rechte: Verlag Neue Stadt

Er sei „geboren im Herzen der Bibel“. Das notiert Cohen einmal in seinem Notizbuch. Zutreffender lassen sich seine Liebe und seine Ehrfurcht vor der Bibel nicht ausdrücken. Die Bibel ist die Grundlage für Cohens Glauben und Zweifeln, für sein Denken und Fühlen; sie ist ihm eine unerschöpfliche Quelle für seine lyrischen Versuche, die Transzendenz irgendwie in Worte zu fassen.

Cohen ruft damit eigentlich Selbstverständliches, aber oft Vergessenes, in Erinnerung: Die Bibel ist kein weltfernes Buch. Sie spiegelt all unsere menschlichen Befindlichkeiten: Sorgen und Freuden, Ängste und Nöte, Liebe und Hass, Rachegelüste und Mitgefühl, Sehnsüchte und Enttäuschungen. Und die Bibel enthält so bedenkenswerte wie tröstliche Antworten auf die Fragen, die Menschen zu allen Zeiten bewegen: Woher kommen wir? Worin besteht der Sinn des Lebens? Wie gehen wir mit Schuld um? Wie schaffen wir es, im Einklang mit uns selbst und mit Gott zu leben?

Die Antworten der Bibel bestehen nicht aus Dogmen oder Patentrezepten. Die biblischen Geschichten und Gedanken bieten Inspiration für das eigene Nachdenken. Das hat Leonard Cohen in den Gesprächen mit seinen Großvätern gelernt. Sie lehrten ihn, dass gläubige Menschen weiterfragen und dass sich wesentliche, auch spirituelle Fragen im Dialog klären lassen. Cohen liest und nutzt die Bibel in dieser Weise: als einen Schatz an Erfahrungen und Botschaften, die uns helfen, uns selbst und die Welt zu verstehen. Er legt sie nicht aus wie Pastoren von der Kanzel. Auch seziert er die biblischen Geschichten nicht, wie Theologieprofessoren es tun. Er nutzt sie nicht zur Moralpredigt, um Menschen ihre Sündhaftigkeit vor Augen zu führen. Auch verwandelt er sie nicht zum Missionsinstrument, das den einzigen Weg zu Gott ebne.

Die fromme konservative Erziehung hat ihn offensichtlich gegen fundamentalistische Versuchungen gefeit. Die Bibel ist für ihn zu heilig, um sie als Waffe im Kampf gegen vermeintlichen Unglauben einzusetzen. Sie ist ein Buch für alle Suchenden. Ein Buch der Wandlungen. Ihre Heiligkeit besteht nicht darin, irgendwann einmal für heilig erklärt worden zu sein. Ihre Heiligkeit gründet darin, dass sie keinen Unterschied zwischen Himmel und Erde, zwischen dem „Reich Gottes“ und dem irdischen Leben macht – und nicht aufhört zu behaupten, dass es eine Wirklichkeit hinter der sichtbaren, fühlbaren, greifbaren, mit allen Sinnen erfahrbaren Welt gibt. Leonard Cohen stellt sich in die über tausende Jahre weitergegebene Wahrheit, von der die biblischen Gestalten zeugen. Pastorale Floskeln, Rücksichtnahme auf (vermeintlich?) religiöse Gefühle oder theologische Richtigkeiten gehören nicht in seine Denk- und Glaubenswelt.

Das ist beachtenswert. Denn die Bibel in dieser Weise wertzuschätzen, ist vielen Menschen fremd. Die „Heilige Schrift“ gilt vielen als verstaubt, als Aneinanderreihung von Geboten und wunderlichen Geschichten, von grausamen Bildern von Schlachten und völlig unrealistischen Friedenssprüchen. „Die andere Wange hinhalten“: Wie dumm ist das denn? „Barmherzig sein“? – Da ist man doch eher aufs eigene Wohl bedacht. „Nach Gerechtigkeit dürsten“? – Das tun doch nur noch hartgesottene Gutmenschen und sie ernten dafür Spott! Und „Lohn im Himmel“: Was soll das denn sein? Wie wird der denn ausbezahlt? Und weiß ich überhaupt, ob es nach dem Tod im Himmel weitergeht? Und dann dieses antiquierte Gerede vom „Jüngsten Gericht“!

Die Theologin Dorothee Sölle sagte einmal: „Nicht du liest die Bibel. Die Bibel liest dich!“ Diesen Perspektivwechsel vollzieht auch Cohen. Er findet in den biblischen Geschichten

seine eigenen Sehnsüchte und Ängste wieder. Die Gestalten der Bibel sind für ihn keine historischen Figuren. Er entdeckt in ihnen Glaubensgenossen und Seelenverwandte. In großer Freiheit nähert er sich ihnen; dabei vereinnahmt er sie nicht, tritt eher in eine Beziehung zu ihnen. Als die Sängerin Judy Collins einmal gefragt wurde, was sie an Cohen so beeindruckt habe, nannte sie „die Tatsache, dass ein Jude aus Kanada die Bibel so auseinandernimmt und den Katholiken mal richtig zeigt, was in all diesen Geschichten, die sie zu kennen glauben, wirklich drinsteckt“.

Oft bezieht sich Cohen auf eine der prägendsten Erfahrungen des israelitischen Volks, den sogenannten Exodus, den Auszug aus Ägypten, und zeigt, wie viel Bedeutung er ihr beimisst. „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.“ Mit diesem Satz beginnen die Zehn Gebote und erinnern damit an die Grunderfahrung der Befreiung. Die Geschichte dahinter: In Ägypten wurden Israeliten als Zwangsarbeiter eingesetzt. Sie mussten Schmach und Unterdrückung ertragen. Die schillernde Gestalt des Mose sorgte im Auftrag und mit der Vollmacht Gottes dafür, dass der ägyptische Pharao das Volk aus der Knechtschaft entließ. Mose verhieß seinen Glaubensgeschwistern ein „Land, in dem Milch und Honig fließen“. Vierzig Jahre dauerte die Wanderung dorthin – ein mühsamer und entbehrungsreicher Weg durch die Wüste, der letztlich den Glauben an Gott gefestigt hat. Anfangs euphorisiert durch die Befreiung und die rosige Zukunft, murrte das Volk jedoch bald. Durst und Hunger machten das Leben schwer. Zweifel kamen auf. Einige fielen sogar vom Glauben ab, tanzten um ein Götzenbild, das „Goldene Kalb“.

Um den Israeliten Gottes Willen zu überbringen, erklomm Anführer Mose den Berg Sinai. Dort erhielt er von Gott zehn Gebote, die die Gläubigen beherzigen sollen. Am Ende wird das Gelobte Land erreicht. Das 2. Buch Mose berichtet von dieser Befreiung und Bewahrung durch Gott.

Der sogenannte Exodus diente die Jahrhunderte hindurch Geknechteten oft als tröstliche und ermutigende Identifikationsgeschichte – zum Beispiel den nordamerikanischen Sklaven. Die Erinnerung an die biblische Befreiungsgeschichte schenkte ihnen Kraft, die Sklaverei zu ertragen, aber nicht nachzulassen in der Hoffnung, dass Gott auch sie befreie. In vielen Gospel-Songs, die sich aus der afroamerikanischen Musiktradition entwickelt haben, ist diese Hoffnung dokumentiert. Etwa in „Go Down Moses“, gesungen unter anderem von Louis Armstrong: „When Israel was in Egypt‘s land / let my people go“.

Cohen scheut sich nicht, Israels Exodusgeschichte zur Beschreibung der eigenen Gemütszustände zu nutzen. „Ich wurde in Ketten geboren, doch aus Ägypten befreit“, dichtet er für den Song „Born in Chains“. „Mir wurde eine Bürde aufgehalst, doch die Bürde wurde wieder genommen“, freut er sich und dankt Gott dafür: „Herr, ich kann dieses Geheimnis nicht länger bewahren. Geheiligt sei Dein Name, Dein Name gepriesen!“

Die Bibel erzählt, dass das Heer des Pharaos den Israeliten folgte; da teilte Gott das Meer, die Israeliten zogen trockenen Fußes hindurch – und die Feinde wurden von den zurückströmenden Wassermassen verschlungen. Auch diese Geschichte bezieht Cohen auf sich. „Ich floh an den Rand des mächtigen Sees der Sorge. Wurde verfolgt von den Reitern eines dunklen und grausamen Regimes. Doch die Fluten teilten sich und meine Seele ging heraus aus Ägypten. Aus des Pharaos Traum!“

Cohen psychologisiert den Exodus, nutzt eine biblische Geschichte, um seinen eigenen Zustand zu beschreiben und so sich selbst besser zu verstehen. Ist das statthaft? Einige Exegeten werden vermutlich die Nase rümpfen, so wie sie es bei der „tiefenpsychologischen Bibelexegese“ tun, die auf eine tiefere Dimension biblischer Geschichten hinweist: Ihr geht es weniger um theologische Einordnungen als um archaische, in der Seele jedes Menschen verankerte Ur-Erfahrungen.

Cohen ist Bibelkenner, aber kein Theologe. Unbedarft und mit der Freiheit des Dichters eignet er sich die Geschichten, die er seit seinen Kindertagen kennt, an. Seine Art der Bibellektüre ist nicht von missionarischem Interesse geleitet, sondern vom Wunsch nach Selbsterkenntnis. Seinen Lebensweg deutet er als Befreiungserfahrung. Aus Ketten in die Freiheit: eine gelungene Selbstwerdung, könnten Psychologen kommentieren – und sich darüber freuen, wie ein Suchender sein Leben auf der Grundlage seines ihm seit Kindertagen vertrauten Glaubens reflektiert.

Die Wüstenwanderung des Volkes Israel wird für Cohen auch zum Sinnbild für die sozioökonomischen und politischen Verhältnisse in den USA. Im Lied „Democracy“ (1992) sehnt er sich eine echte Demokratie herbei. Zurzeit würden die Frauen vor den „Brunnen der Enttäuschung“ auf Knien beten „um die Gnade Gottes in dieser Wüste“. Das Gelobte Land, das einst den Israeliten verheißen war und das ihnen die Kraft gab, die Ödnis und Anstrengung der 40 Jahre dauernden Wüstenwanderung zu ertragen, steht für die Hoffnung auf eine wahrhaft demokratische und gerechte gesellschaftliche Ordnung. Wobei es in der Entstehungszeit von Cohens Lied auch reale Wüsten gibt, in denen sich das Leid der Welt konzentriert: etwa im Irak, wo die Opfer von Diktatur und Krieg ausharren und die Frauen für ihre Männer beten, die in den Krieg gegen die US-Truppen ziehen.

Und wenn dann einmal Demokratie eingekehrt sein wird, mutmaßt Cohen, dann „wird der Berg ‚Amen‘ schreien“. Ein Anklang an Psalm 72,3, in dem es heißt: „Lass die Berge Frieden bringen für das Volk und die Hügel Gerechtigkeit.“

Im Gedicht „Credo“ lässt die Beobachtung einer Heuschreckenwolke Cohen in Gedanken versinken – zuerst natürlich in Gedanken an die biblische Geschichte über die zehn Plagen. Sie handelt davon, dass sich der ägyptische Pharao zunächst geweigert hatte, die versklavten Israeliten freizulassen. Um ihn gefügig zu machen, schickte Gott Plagen – unter anderem Heuschreckenschwärme, die die Ernte vernichteten (2. Mose 10).

Cohen fragt sich, „welche Sklavenvölker“ durch die Heuschrecken, die er gerade sieht, „frei würden“. Dann verführt ihn seine Geliebte und lenkt ihn von seinen Gedanken ab. Die beiden lieben sich in der Natur; als es Nacht wird, sieht er im Mondlicht eine weitere Heuschreckenwolke – diesmal nicht hungrig, sondern satt. In einer Art Vision ziehen „Bataillone der Unglücklichen, von heiligen Verheißungen entflammt“ vorüber. Das führt Cohen in ein Dilemma: Soll er seine Liebste verlassen und sich diesen Bataillonen anschließen, um „mit ihnen heilig zu sein“? – Er bleibt. Denn „es ist gut, zwischen einem Ruinenhaus der Knechtschaft und einem heiligen Land der Verheißung zu leben“.

Beachtenswert, wo in der biblischen Exodusgeschichte Leonard Cohen seinen eigenen Ort sieht: beim Volk, das aus der Knechtschaft befreit ist, dem ein „Land, in dem Milch und Honig fließen“ verheißen ist – das es aber noch nicht erreicht hat. Cohen fühlt sich wie ein befreiter Sklave, der unter Moses Führung mit seinen Glaubensgeschwistern und Leidgenossen die Strapazen der Wüstenwanderung erträgt. Er lebt unter dem Eindruck der Unterdrückung. Seine Kraftquelle ist die Zusage Gottes, dass am Ende der Wanderung ein Leben ohne Entbehrungen stehen wird. In der Zwischenzeit, in der Wüste, spielt das Leben: Hier wird geliebt, hier wird gelitten, hier wird geglaubt, gemurrt, gezweifelt, hier wird zu Gott gebetet und hier werden die Götzen umtanzt. Hier findet das Leben statt, in seiner ganzen Fülle, mit allem, was dazugehört.

Cohen hält der Versuchung stand, sich voreilig ins Gelobte Land zu imaginieren. Bewusst nimmt er die Wüste auf sich und sucht sich dort Oasen – so wie er sie gerade mit seiner Geliebten in der Natur zwischen Farnen gefunden hat, eine florale Liebes-Oase. Damit endend, wäre das Gedicht allerdings zu „schön“, um von Cohen zu sein. Der Schluss ist kein romantisches Idyll, sondern offen und mysteriös: In der Erde „rumoren“ schon die Larven neuer Heuschrecken; sie werden in absehbarer Zeit schlüpfen und den Pharao in die Knie zwingen. Und die Sklaven, die jetzt noch „Kathedralen bauen, damit andere Sklaven sie niederbrennen“, werden befreit.

Auch mit einigen biblischen Gestalten fühlt sich Cohen so verbunden, dass er sie zur Schablone für das eigene Erleben macht – den starken Heerführer Simson (oder Samson) zum Beispiel. Aus Rache dafür, dass er von einer Frau an die feindlichen Philister verraten wurde, beging Simson ein Selbstmordattentat: Er ließ den Tempel einstürzen, in dem die Gegner ihren Sieg feierten. Simson selbst wurde dabei mit unter den Trümmern verschüttet

und starb (Richter 16).

Mit Verweis auf ihn beschreibt sich Cohen einmal selbst als „blind vor Zorn und Tod“. Im Gedicht „Samson in New Orleans“ ereifert er sich über die Ungerechtigkeit in der Stadt New Orleans. „Versammle die Mörder, bring alle in die Stadt“, sagt er, „steh mir bei an diesen Säulen. Lass mich den Tempel einreißen!“

Für Cohen ist keine Situation zu intim, als dass er sie nicht mit biblischen Stellen assoziieren könnte, wie ein anderer Text zeigt, der explizit auf die Samson-Geschichte anspielt: Cohen schildert, wie eine Geliebte ihn mit einem Blowjob beglückt; beim Orgasmus fällt er vor Lust und Erschöpfung auf die vor ihm kniende Frau „mit einem Stöhnen, wie jene Götter auf dem Dach, das Samson einriss“. Ein Beispiel dafür, wie Cohen jede Lebenswirklichkeit

mit biblischen Motiven verbinden kann.

Gottlob verliert er inmitten seiner bisweilen kruden Fantasien und depressiven Weltsichten den Humor nicht, der sich auch in folgendem Satz über seine Jugendzeit mit Freund Morton findet: „Der Cadillac mit Mort am Steuer zog eine schwarze Linie durch die tiefen Schneewehen, als übte Moses für den Trick mit dem Roten Meer.“

Der zweite große biblische Seelenbruder Cohens ist David. Der Hirtenjunge aus Bethlehem war selbstbewusst und angstfrei, stand in enger Beziehung zu Gott und verfügte über heilende Kräfte. Eigenschaften, die irgendwie auch zu Cohen passen. Zudem war David musikalisch.

Immer wenn König Saul von seinen Depressionen besonders stark heimgesucht wurde, „nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand“. So schön, dass sich Saul daran „erquickte“ und „der böse Geist“ von ihm wich.

David lebte als Freischärler und Frauenheld, wurde schließlich zum König Israels gekrönt, und ließ sich dennoch bisweilen mehr von seinen Trieben als von Gottes Geboten leiten. Die Geschichte des Ehebruchs mit Batseba hat Cohen in seinem Welthit „Hallelujah“ verarbeitet. Cohen fühlt sich „wie David, der sich in die Finsternisse der Liebe begab“, notiert er in einem psalmartigen Gebet, in dem er Gott bittet, „fertig zu sein mit dieser Bürde von Herz, mit dieser stolzen Verzweiflung“. Er möchte „endlich durchsein mit diesem Abgrund der Liebe“, fleht Cohen, „wie David, der sich runterbeugte in die Finsternis seiner Liebe“.

Cohen schildert David – und sich selbst – als hoffnungslosen, fast gebrochenen Mann, Herrscher über die „Königreiche des Kummers“, der an eine schwere Kette gebunden ist.  Inmitten dieser „Herzensdunkelheit“ schreit Cohen zu Gott: „Wenn ich zu dir redete, / wenn ich’s versuchte, / ein Wort, ein Atemzug nach dem andern; / wenn ich zwischen die Wörter horchte; / wenn ich langsam ginge / wirst du dann an diesen Ort kommen / den du für meine Zweifel gespalten hast?“  Hoffnungsschimmer gibt es dennoch: „Die Welt beginnt, dich zu erwarten. / Mach den Namen neu, / der das Leid vergessen macht.“ Würde das David zugeschriebene Buch der Psalmen fortgeschrieben werden: Dieses Gebet Cohens würde aufgenommen.

Auch aus der Vater-Sohn-Beziehung von Abraham und Isaak macht Cohen ein tiefschürfendes Opus. „Die Opferung Isaaks“ wird die biblische Geschichte oft überschrieben oder „Die Versuchung Abrahams“; sie steht im 1. Buch Mose 22. Der Hintergrund: Die Ehe des biblischen Stammvaters Abraham mit seiner Frau Sarah war kinderlos geblieben. Um dennoch Nachwuchs zu zeugen, kam das Paar auf eine aus heutiger Sicht befremdliche Idee: Abraham zeugte mit Sarahs Dienstmagd Hagar ein Kind. So wurde Ismael geboren.

Dann geschah das Unfassbare: Im Alter von 99 Jahren wurde Sarah mit Gottes Hilfe doch noch von Abraham schwanger. Den Sohn nannten die beiden Isaak. Die Familiensituation

war kompliziert und eskalierte. Auf Geheiß der eifersüchtigen Sarah hin schickte Abraham die Magd Hagar und ihren gemeinsamen Sohn Ismael in die Wüste. Eigentlich hätte sich nun alles beruhigen können. Aber dann schildert die Bibel eine noch unerhörtere Geschichte: Gott habe Abraham aufgefordert, seinen einzigen Sohn zu opfern.

Cohen kennt auch diese Geschichte aus seiner Kindheit. Nun schlüpft er in die Rolle des Isaak und stellt sich vor, wie eines Morgens sein Vater ins Zimmer kommt und mit eiskalter Stimme sagt: „Ich hatte eine Eingebung. Du weißt: Ich bin stark und heilig, ich muss tun, was mir gesagt wird!“ Dann muss Isaak mit seinem Vater in die Berge ziehen. Abraham hat eine goldene Axt dabei. Mitten in der Wüste halten sie an, Abraham baut einen Altar und sieht sich um: Alles sicher, hier wird Isaak nicht fliehen können. Als Abraham seine Hand mit der Axt hebt und Isaak schlachten will, hält er zitternd inne – kein Engel, sondern die „Schönheit des Wortes“ hat ihn von der Bluttat abgehalten.

Cohen verbindet die Geschichte mit einer Mahnung. Es ist 1968, der Vietnamkrieg tobt und fordert auf allen Seiten unzählige Tote und Verletzte. Der Krieg weitet sich auf Kambodscha aus. Bilder von Kindern, die durch amerikanisches Giftgas schrecklich leiden, lassen die Menschen am Sinn des Krieges zweifeln. Cohens Lied über die Geschichte Isaaks ist vor diesem Hintergrund ein eindrücklicher Kommentar. Streng wie ein biblischer Prophet geht er mit den Kriegstreibern ins Gericht. „Ihr, die ihr solche Altäre jetzt baut, um Kinder zu opfern: Hört auf damit!“ Zumal in Vietnam kein Engel und kein Gott eingreift und Kinder vor der Tötung rettet. Cohen möchte nicht mehr Bruder derer genannt werden, die Gewalt gegen Kinder ausüben. „Gnade deiner Uniform!“, singt er, „Mann des Friedens und Mann des Krieges!“

Cohen versteht es, die alten biblischen Legenden in die Gegenwart zu übertragen. doch auch zwei anderen jüdischen Künstlern der Generation Cohens hat die Geschichte der Opferung Isaaks keine Ruhe gelassen. Der eine: Bob Dylan, fünf Jahre jünger als Cohen, aber schon länger im Musikgeschäft als dieser. 1965 eröffnet er mit der Geschichte Isaaks einen seiner Songs, „Highway 61 Revisited“. Highway 61 hieß die Landstraße, die von Dylans Geburtsort Duluth gen Süden bis nach New Orleans führte. Auf dieser Straße solle Abraham seinen Sohn töten, verlangt Gott. Im Song allerdings nur in einer rätselhaften Anspielung; die Deutung überlässt Dylan, wie so oft, den Hörern. Highway 61, das war auch die Straße, die Dylan

aus seiner Heimatstadt in das Gebiet führte, in dem Blues und Jazz entstanden: Will er vielleicht sagen, dass der Weg zur eigenen Bestimmung über die Gefahr der Tötung laufen muss?

Der andere Künstler: der Komiker und Filmemacher Woody Allen, ein Jahr nach Leonard Cohen geboren. Mit der ihm eigenen Ironie entlockt er der Geschichte von Abraham und Isaak neue Tiefen. Er lässt Abrahams Frau Sarah mitdiskutieren. Woher er denn wisse, dass es wirklich Gottes Stimme war, fragt sie Abraham; der wiederum findet keine Antwort – außer, dass es eine unfassbar „tiefe und klangvolle Stimme“ war. „Und du bist willens, diese Tat auszuführen?“, fragt Sarah ihn. Abraham antwortet in fundamentalistischer Manier: „Das Wort des Herrn in Frage zu stellen, ist das Schlimmste, was jemand tun kann!“

Also zieht er mit Isaak in die Wüste, legt seinen Sohn auf den Opferaltar, hebt das Messer. Im letzten Moment hält Gott seine Hand fest und fragt: „Wie konntest du so etwas tun?“ Abraham ist verblüfft, will wissen, ob denn sein Gehorsam nicht ein Beweis seiner Liebe zu Gott sei?! – „Das beweist nur, dass einige Menschen jedem Befehl folgen, ganz egal, wie kreuzdämlich er ist, solange er von einer wohlklingenden, melodischen Stimme kommt“, erwidert Gott. Woody Allens Botschaft ist klar: Niemand kann sich sicher sein, ob wirklich Gott zu ihm spricht.

Cohen, Dylan und Allen: jüdische Künstler, die zu den erfolgreichsten und wirkmächtigsten unserer Zeit zählen und die allesamt ihre jüdischen Wurzeln nicht verleugnen, sondern in kreativer Weise fortschreiben. Das Privileg gehabt zu haben, eine alte Tradition zu kennen, war meiner Meinung nach entscheidend in meinem eigenen Leben“, sagt Cohen einem Interviewer und nennt die Bibel „das wohl wichtigste Buch in meinem Leben“, das ihn sehr berührt habe. Als Beispiele nennt er die Klagelieder, „das Gefühl der Größe bei den Propheten und das Gefühl der chaotischen Offenbarung im Buch der Offenbarung“.

Lese er die Bibel, schlage sein Herz schneller: „Es sind die kraftvolle Sprache und die Bilder der Bibel, die mich anziehen. Und es ist eine Bilderwelt, die ich mit jedem teile, eine Quelle, aus der ich immer wieder habe schöpfen können – all die Geschichten, von David bis Jesus, die Idee eines heiligen Gesetzes, einer Offenbarung, eines geweihten Lebens, einer messianischen Bestimmung. Diese Poesie habe ich für mich genutzt.“ So fühlt es sich wohl an für die, die „im Herzen der Bibel geboren“ sind.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages Neue Stadt, München/Wien/Zürich

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PRODUKTINFORMATION:

Cohen – wie ihn nur ganz wenige kennen Leonard Cohens Lied „Hallelujah“ berührt die Herzen von Menschen auf der ganzen Welt. Bewegend schildert es Gott, die Schönheit der Liebe und den Bann der Sexualität. Der jüdische Poet und Liedermacher (1934-2016) schrieb Gedichte und Lieder, die unzählige Menschen bis heute bewegen und prägen. Mit tiefem Respekt lobte er Gott. In vielen seiner Songs griff er Geschichten und Personen der Bibel auf; andere wirken wie moderne Gebete. Als Jude aus frommem Haus blieb Cohen seinem Glauben treu – probierte aber viele andere Religionen aus, lebte zeitweilig sogar als Mönch in einem Zen-Kloster. Am Ende seines Lebens wurde ihm Jesus immer wichtiger, mit ihm sah er sich „an einem Tisch“ sitzen und über Gott diskutieren. Der Theologe und Publizist Uwe Birnstein schildert Cohens bewegte spirituelle Suche, die ihn bis in die Abgründe der Liebe führte. Er enthüllt die Geschichten hinter Cohens Liedern, die allesamt auf poetische Weise Gott loben: Halleluja! Eine einzigartiges Publikation … – Hintergründe des Welthits „Hallelujah“ – Das erste Buch über den Glauben Leonard Cohens · Ein Türöffner zur Tiefendimension des Lebens für Suchende – Mit teilweise erstmals veröffentlichten Schwarz-Weiß-Fotos