von Michael Brenner
Ein Beitrag für das Leonard Cohen Archiv von Christof Graf
Für Frances (Poppy) Northcutt, eine coole Mathematikerin und Fortschrittsaktivistin
Teil 1
And there are no chocolates in the boxes anymore, and there are no diamonds in the mine. Worte aus dem Song Diamonds in the mine von Leonard Cohen. Bezogen auf den langen Bogen der Geschichte unserer Spezies erscheint ein einzelnes menschliches Leben extrem kurz. Und je älter man wird, desto mehr gehören Verlust und Tod dazu. Im November 2016 wurde Leonard Cohen beerdigt. Sein Ableben hat mich für einige Tage nachdenklich und traurig gemacht. Mit ihm ist einer der ganz großen aus den späten 1960ern gestorben.
Es war Herbst 1968, als ich zum ersten Mal von Leonard Cohen hörte, in dem wilden Jahr, als die Rebellion der Jugend explodierte. Einmal in der Woche gab es am Mittwochabend im Norddeutschen Rundfunk fünfundvierzig Minuten internationale Folklore, wie auch der Titel dieser Sendung lautete. Regelmäßig saß ich dafür am Radio. An einem dieser Abende wurden neue Liedermacher und Poeten, so hieß es damals, aus Amerika vorgestellt.
Ich erinnere mich, dass jeweils zwei Songs von Judy Collins, Joni Mitchell und Leonard Cohen gespielt wurden. Nur Tage später besaß ich die LP Songs of Leonard Cohen. Sie gefiel mir ebenso so gut wie die Musik von Joan Baez, Bob Dylan, Pete Seeger, die ich angefangen hatte, für mich zu entdecken. Das Wort gefiel ist eigentlich zu wenig, ich war verliebt in diese Musik, wie süchtig danach. Sie half mir, erwachsen zu werden, hat mich mental beeinflusst und war ein Verbündeter in meinem unerfreulichen Alltag, der aus dem Besuch einer gruseligen Schule und dem Leben in einer kaputten Familie bestand, wie meine Generation das damals nannte. I was so easy to defeat, I was so easy to control, I didn’t even know there was a war. (Lyrics: Leonard Cohen, There is a war.)
Zunehmend übernahmen Songs von Joan Baez, Bob Dylan, Judy Collins und Leonard Cohen die Rolle meiner Eltern. Sie vermittelten mir moralische Werte und halfen mir, die Welt zu verstehen. Yes you who must leave everything, that you cannot control, it begins with your family, but soon it comes round to your soul. (Lyrics: Leonard Cohen, Sisters of mercy). Ich glaubte genau zu empfinden, was er meinte. Für viele Jugendliche der 1960er wurden die Songs von Leonard Cohen zu einem Teil ihres kulturellen Gedächtnisses und ihrer Identität. Nichts prägt Menschen so sehr wie die Zeitspanne der Pubertät, wenn sie sich auf die Welt der Erwachsenen einlassen.
Ich war zu diesem Zeitpunkt ein siebzehnjähriger Schüler, der vormittags ein autoritäres Jungen-Gymnasium besuchte, nachmittags meist Fußball spielte und abends manchmal zu den politischen Veranstaltungen an der Universität fuhr oder an Demonstrationen und Aktionen gegen die Notstandsgesetze oder den Vietnam-Krieg teilnahm. So wie viele andere auch glaubte ich diffus an die große Revolution, die unsere Welt besser machen würde. All the brave young men they’re waiting now to see a signal (….) Of course I was very young and I thought that we were winning; I can’t pretend I still feel very much like singing (Lyrics: Leonard Cohen, The old revolution ).
Damals auch schrieb ich einige Male an die NASA, ließ mir Informationsmaterial schicken und versuchte die Mathematik und Physik des Flugs zum Mond zu verstehen. Ich dachte, was für eine tolle Spezies wir doch seien. Rückblickend war ich nur zu jung und zu unbedarft, um zu begreifen, dass die Eroberung des Alls nicht für zivilisatorischen Fortschritt und Menschenträume stand, sondern es um die technologische Führerschaft im Kalten Krieg, um die Auseinandersetzung zwischen Kommunismus und Kapitalismus ging. Der Kampf der Supermächte um die Eroberung des Alls und im Wettlauf zum Mond war vielleicht die coolste und größte Show der Menschheit.
Leonard Cohen wurde als Musiker in den 1960ern groß und bekannt. Es war eine besondere zeitgeschichtliche Periode, in der sich die Richtung des menschlichen Zusammenlebens grundlegend veränderte. Gefühlt war es für große Teile der Jüngeren wie ein Neuanfang der Menschheit, nach dem Trauma des Zweiten Weltkriegs, der fast nahtlos in den Kalten Krieg übergegangen war. Zu Anfang dieser Dekade loteten die Supermächte mit der Kuba Krise jeden Millimeter des Weges in ihre eigene Vernichtung aus und in New York schrieb der junge Bob Dylan seine Meisterwerke wie A hard rain’s a-gonna fall und Let me die in footsteps.
Einen Monat nach der ersten Mondlandung, vor ziemlich genau fünfzig Jahren, gab es mit dem Woodstock Festival die drei Tage von Love und Peace, ein historisches Ereignis, das eine ganze Generation prägte und zu ihrer Legende wurde. Danach war für jüngere die Welt nicht mehr dieselbe. Ein Film und die Schallplatten verbreiten das Ereignis über den Globus und zeigten wie mächtig die jugendliche Gegenkultur geworden war. Die 1960er brachten nichts weniger eine Zeitenwende, ein Zeitalter war zu ende gegangen und ein neues hatte begonnen. Eine Zeit von großer Hoffnung und vielfältigen Möglichkeiten, ebenso von politischer Unschuld. Neue Generationen traten ins Leben, denen gemeinsam war, dass sie den Zweiten Weltkrieg nicht mehr oder nur als sehr kleine Kinder erlebt hatten. Die späten Sechziger waren eine Zeit, die von Bob Dylan mit der Textzeile There was music in the cafés at night and revolution in the air so treffend und großartig beschrieben wurde.
Doch anders als Dylan oder Joan Baez war Leonard Cohen kein anklagender politischer Aktivist, keine Führungsfigur der Gesellschaftsveränderung, aber auch seine Musik packte mich und auch sie sollte mich lebenslang begleiten. Die Songs seiner Platten klangen eindringlich und intensiv, dunkel, mit einem betörenden melancholischen Grundton. Sie waren schmerzhaft persönlich, affektiv und inhaltsvoll, sie versprühten Emotionalität, Tiefe, Magie, Menschlichkeit und Schmerz. Anker und Projektionsfläche, ein Ruheraum in den Kampfeshandlungen im Krieg gegen die Welt der Erwachsenen. Ähnlich wie viele meines Jahrgangs verbrachte ich den einen oder anderen Abend bei Tee und Kerzenlicht, einem Mädchen oder allein und der Musik von Leonard Cohen.
Seine Karriere und sein Ruhm entwickelten sich im Umfeld des Folklore Revivals und der vielen gesellschaftskritischen Songwriter der 1960er, auch wenn er eigentlich nicht dieser Gruppe hinzuzurechnen ist. Seine Kunst ließe sich eher als gesungene Poesie statt als Protest bezeichnen, würde diese Bezeichnung in der deutschen Sprache nicht so fürchterlich klingen. Sie stand für menschliche Empfindungen und Gefühle. Vor seiner Musikkarriere war Cohen in seinem Vaterland Kanada bereits als Schriftsteller berühmt. Auf dem Videoportal YouTube lassen sich zahlreiche Clips finden, in denen Judy Collins, die zu diesem Zeitpunkt schon berühmt war, rückblickend auf liebevolle und berührende Weise ausführlich erzählt, wie sie zu den Anfängen von Cohens musikalischer Karriere beigetragen hat. Etwa als er sie im Jahr 1966 nachts besuchte und sie fragte, ob Suzanne, die Verehrung einer Montrealer Tänzerin, ein Song sei. You can hear the boats go by, you can spend the night forever and you know that she’s half-crazy but that’s why you want to be there. (Lyrics: Leonard Cohen, Suzanne). Kurze Zeit später brachte Judy Collins Suzanne auf ihrer LP In my life. Im Juli 1967 sang Cohen dann gemeinsam mit ihr das Lied zum ersten Mal öffentlich in New York. Im selben Jahr erschien es schließlich auf seiner ersten Platte Songs of Leonard Cohen.
Im folgenden Frühjahr 1969 kam die LP Songs from a room heraus, schnell gekauft und oft gespielt, 1971 dann Songs of love and hate. Lieder wie Suzanne, Hey, that’s no way to say goodbye, Diamonds in the mine oder Joan of arc sollten mich nie wieder verlassen. Die Songs meiner Jugend, nicht nur Cohen, Dylan, Baez oder Collins waren immer ein Teil meines Lebens. Die Jugend der 1960er war die erste Generation, die durch die technische Entwicklung von Radio, Schallplatte, Tonband hin bis zu iPod und iTunes ihr Leben lang umfassend und global Zugriff auf ihre musikalische und kulturelle Identität erlangen sollte.
Teil 2
Die Generation unserer Eltern begeisterte sich für Fred Bertelsmann, Lou van Burg, Freddy Quinn, Peter Alexander oder Roberto Blanko. Für jüngere fürchterlich spießig, reduziert und eindimensional. Im tieferen Sinne stand diese Kultur für die kollektive Verdrängung der deutschen Vergangenheit in der ersten Nachkriegsjahrzehnte und das konservativ-reaktionäre Gesellschaftssystem, das sich mit der westdeutschen Nachkriegsrepublik entwickelt hatte. Nach der Schuld von Nationalsozialismus und Konzentrationslagern kämpfte mein Vaterland heftig mit seiner Identität. Mit dem Wirtschaftswunder war zwar die größte materielle Not der unmittelbaren Nachkriegszeit überwunden worden, die Schuld und die seelische Belastung aus Nationalsozialismus und dem Grauen der Konzentrationslager aber geblieben. Ein Großteil der deutschen Kultur war in den Jahren des Dritten Reichs vergiftet worden. Wie zur Hölle sollte man unter solchen Umständen auf seine Eltern und Land stolz sein, wie eine unbeschädigte Identität finden, wenn immer Fragen wie Was hast du gewusst? Was habt ihr getan? unausgesprochen im Raum standen.
Mit den 1960er begann für Jüngere die gefühlte Befreiung, anfangs als kulturelle Revolte, mit Beat-Musik, mit dem Folk-Revival, mit längeren Haaren, kurzen Röcken und der sexuellen Revolution, später dann als politische Bewegung. Es begann, nicht nur in meinem Land, eine die Zeit der Unruhe und Revolte der Jüngeren, eine politische Bewegung von globaler Dimension, auch wenn der Schwerpunkt in den westlich orientierten Demokratien lag. Zum ersten Mal in der menschlichen Entwicklung rebellierte eine ganze Generation kollektiv gegen die Welt ihrer Eltern. Suche ich ein Label für diesen historischen Prozess, dann war es ein Aufstand der Jüngeren gegen Werte und Lebensweise der Älteren. Die Musik der Jugend – von den Beatles, Rolling Stones, Bob Dylan, Leonard Cohen und von unzähligen anderen – wurde zum Motor und Taktgeber der Gesellschaftsveränderung und zum weltweiten Bindeglied unter Jüngeren. Traf ich jemanden der Leonard Cohen hörte, wusste ich wie selbstverständlich wie er oder sie über diese Welt denkt und empfindet.
Wir alle träumten davon, in einer besseren Welt zu leben. In friedlichen und sozial gerechten Gesellschaften, wir waren gegen den Wahnsinn des Kalten Kriegs, gegen Aufrüstung und die nukleare Bedrohung. Gegen den Krieg der amerikanischen Regierung in Vietnam. Für Bürgerrechte, für mehr persönliche Freiheit in Denken, Leben und Sexualität. Für Spaß und Lebensfreude, für Love and Peace. Für Utopien. Wir wollten die Guten sein und träumten von gesellschaftlichem Fortschritt und einer umfassenden Demokratisierung aller Lebensbereiche. Es ging gegen Unrecht und Rassendiskriminierung, gegen Ausbeutung. Das Wort Freiheit besaß noch eine tiefere Bedeutung und war noch nicht zum Geschwätz von austauschbaren Politikern degeneriert.
Geist und Kraft der gesellschaftlichen Veränderungen wurden in den 1960ern nicht nur von politisch aktiven Jugendlichen getragen, den Studenten an den Universitäten, von Schülern an Gymnasien wie mir, sondern von einer überwältigenden Mehrheit der Jüngeren. Die politisch Aktiven wie ich waren unzweifelhaft zahlenmäßig eine Minderheit, aber unsere Vorstellungen definierten und beherrschten das gesellschaftliche Klima. Trau keinem über Dreißig, ein Slogan, der das Jahrzehnt in einem einzigen Satz zusammenfasst und das damalige Lebensgefühl vieler trifft. Selbst wer sich als Jugendlicher nicht aktiv an Demonstrationen und politischen Aktionen beteiligte, und das war eben durchaus ein großer Anteil der entsprechenden Jahrgänge, wurde vom Zeitgeist der Veränderung erfasst und zu einem Teil der gesellschaftlichen Umgestaltung. Bereits wenn man als Junge nur lange Haare trug, als Mädchen im Minirock herumlief und Zugang zur Pille suchte oder die unter Jugendlichen populäre Musik der Beatles und Rolling Stones hörte, bedeutete es, dass man die Herrschaft von Eltern, Lehrern und Kirche in Frage stellte und bereits gegen die Erwachsenen und ihre Welt stand.
In den späten 1960ern und frühen 1970ern war auch die Musik Leonard Cohens ein wichtiger Teil dieser revolutionsartig stattfinden gesellschaftlichen Veränderungen. Er gehörte dazu, auch wenn er gesellschaftskritischen Töne nur beiläufig wie selbstverständlich thematisierte, nicht so direkt wie die Rolling Stones vom Street fighting man oder wie die Beatles über Revolution und Chairman Mao sang, sondern sie nur indirekt als Stimmungsbild anklingen ließ, etwa in seinen Songs The partisan und The old revolution. Dennoch war klar, Cohen war einer von uns, auch wenn es primär die emotionale Wirkung seiner Kunst war, die viele Jugendliche dazu brachte, sich für ihn und seine Songs zu begeistern.
Die letzten Jahre des ablaufenden Jahrzehnts sahen nicht nur eine heftige politische Revolte, etwa im Pariser Mai, sondern gleichermaßen auch den Beginn eines breiten und tiefgreifenden kulturellen und sozialen Wandels, der zentral im Bereich menschlicher Beziehungen und Werte stattfand. Veränderung der gesellschaftlichen Rolle der Frau und sexuelle Revolution als beispielhafte Stichworte. Rückblickend hat die Jugendrevolte der 1960er zwar nicht zu den von einigen erhofften politischen Umwälzungen geführt, aber eine weitreichende soziale und gesellschaftliche Verbesserung der Lebensumstände erreicht, welche unsere Werte und Lebensweisen bis in die Gegenwart bestimmen. Bis heute definieren ihre Gedanken und Werte das Zusammenleben in der westlichen Welt, auch wenn längst nicht alle Träume wahr wurden, und an einigen Fronten, etwa eben in der Gleichberechtigung von Frauen, bis heute gekämpft wird.
Wertvorstellungen, Denkmuster und Verhaltensweisen, die bis zu Beginn der 1960er von einer großen Mehrheit der Bevölkerung als radikal, unmoralisch und gar kommunistisch betrachtet wurden, sind heute in den westlich orientierten Ländern in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Vorstellungen, die damals höchst revolutionär klangen, wurden für große Teile der heutigen Mehrheitsgesellschaft zu selbstverständlichen kulturellen Leitbildern.
Wer Ende der 1950er vorausgesagt hätte, es könne einmal Gesetze zum Schutz der Umwelt und gegen Diskriminierung oder gar Bioläden, Rauchverbote und Frauenhäusergeben, wäre zweifellos für verrückt gehalten worden. Warum spricht man in der Gegenwart von Liebe und Sex und nicht mehr von ehelicher Pflicht? Warum können Unverheiratete heute problemlos ein Hotelzimmer bekommen und unehelich zusammenleben? Warum Frauen und Männer gleichgeschlechtlich heiraten? Warum ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar? Warum werden uneheliche Kinder nicht mehr stigmatisiert und Vegetarier nicht mehr ausgelacht? Warum existiert im Land der Wehrmacht keine Wehrpflicht mehr? Auch wenn ich damit den gesellschaftlichen Wandel und das Leben der Gegenwart stark vereinfache, lautet meine Antwort, weil es die 1960er gab.
Was waren das für Zeiten? Warum habe ich als Jugendlicher so heftig rebelliert, warum mich für politische Veränderungen eingesetzt? Mit siebzehn hätte nur kurz geantwortet, weil wir in einer Scheiß-Welt lebten. Mehr musste eigentlich nicht gesagt werden, jeder Jüngere spürte und wusste es. Der Kalte Krieg, die atomare Bedrohung. Die Lügen über die vertuschte und verdrängte Nazivergangenheit, das freudlose Land der Kriegsverlierer. Kaputte Familien und ein übler höherrangiger Nazi, der völlig schamlos zum Bundeskanzler gewählt wurde. Gruselige gesellschaftliche Verhältnisse und autoritäre Unterdrückung. Der Krieg in Vietnam. Entfremdung und ein tiefer Graben zwischen den Generationen.
Kein Satz drückt die Stimmung der 1960er unter Jugendlichen besser aus, als der bereits genannte vielzitierte Spruch, Trau keinem über dreißig. Ohne den gruseligen Müll der Vergangenheit zu bekämpfen, der uns alle umgab, hätten wir nicht erwachsen werden können. Dieser ganze elende Mist. …… Stundenlang hätte ich meinen Frust heraus schreien können. So wie ich träumten große Teile der Jüngeren davon, in einer besseren Welt zu leben. Sie sollte anders und eben besser sein als diejenige, die von den Erwachsenen für uns bereitgehalten wurde.
Teil 3
In den Jahren bis zu meinem Abitur Ende 1971 und im anschließenden Studium war, neben anderer Musik, die von Leonard Cohens ein regelmäßiger und intensiver und Begleiter meines Alltags. Sisters of mercy wurde zu einem meiner Lieblingssongs, auch wenn ich nicht mehr verlässlich sagen kann, welche Sehnsüchte ich damals assoziiert habe. Fast alle meine Freunde hörten begeistert Cohens Musik, ebenso viele der Mädchen am benachbarten Mädchen-Gymnasium. Später kamen seine weiteren LPs Songs of love and hate (1971), Live Songs (1973) und New skin for the old ceremony (1974) hinzu.
Für meine Buchveröffentlichungen und Artikel kehre ich mental immer gerne in die 1960er und 1970er zurück. Es ist für mich immer wieder eine spannende Reise, gleichermaßen persönlich als Mensch und ebenso als Sozialwissenschaftler, besonders vor dem Hintergrund, dass ich nun mittlerweile altersbedingt den allergrößten Teil meines Lebens kenne und es historisch einordnen kann. Genauso spannend ist es, bei Zeitreisen in die Vergangenheit mir und meinem früheren Selbst zu begegnen. Immer gibt es neues zu entdecken.
Viele Heranwachsende fühlten sich als Teil einer globalen Veränderungsbewegung. Zunehmend wurden wir von amerikanischer Kultur geprägt. Amerika war einerseits der freundliche große Bruder. Der Sieg der Demokratie, die Luftbrücke und CARE-Pakete. Hollywood-Filme und Hollywood-Schauspieler, der Bürgerkrieg zur Befreiung der Sklaven, der Mythos der Freien und Gleichen. Andererseits gab es den Vietnamkrieg, die verhassten Kriegspräsidenten Johnson und Nixon, ein übler Krimineller, die Rassenprobleme, den militärisch-industriellen Komplex, die Auswüchse des Kapitalismus. Amerika, the cradle of the best and the worst, wie Cohen es in einem Song ausgedrückt hat.
Meine Generation gilt als die Nachkommen der Tätergeneration, unser Land als das Land der Kriegsverlierer. Diese Erbschaft beeinflusste unsere Gefühle, behinderte unser Heranwachsen und unsere Identitätsfindung. Diese Defizite sehe ich in Deutschland als einen zentralen Antrieb der antiautoritären Rebellion, die sich innerhalb überall ausbreitete. Sie war die Reaktion auf das psychische und soziale Klima, in dem die Nachkriegsjahrgänge heranwuchsen. Da sich die Generation unserer Eltern weitgehend der moralischen Aufarbeitung ihrer Taten verweigert hat, haben sich Scham und unerledigte Schuld auf uns, auf die Jahrgänge nach 1945 übertragen. Viele von uns mussten die verdrängten Gefühle unserer Eltern durchleben, die diese nicht zulassen konnten oder wollten, große Teile unserer eigenen Kultur waren vom Nationalsozialismus vergiftet. Vielleicht hat Leonard Cohen deshalb seit Beginn seiner Karriere in Deutschland eine besonders umfangreiche Anhängerschaft gefunden? Seine Musik bot Jüngeren einen großartigen emotionalen Anker. Niemand je, hat wohl so treffend das psychologische Prinzip des Double Bind in einem Song beschrieben wie Cohen. Your letters, they all say that you’re beside me now, then why do I feel alone? (Lyrics: Leonard Cohen, So long, Marianne).
Teil 4
Zu Anfang der 1970er gab es an der Grindelallee in Hamburg, nahe dem schon seit fünfzig Jahren bestehenden Abaton Programm-Kino am Campus der Universität, den als Gegenkultur geltenden Buchladen Zweitausendundeins. Hier kaufte ich mir Leonard Cohens Bücher Beautiful Losers (Schöne Verlierer) und The favorite Game (Das Lieblingsspiel). Ich erinnere nicht mehr viel, als dass ich damals beide mit Freude gelesen habe. Hängengeblieben ist aber diejenige Textstelle, als sein Protagonist, Betreuer in einem Sommer-Ferienlager, über ein Mädchen sagte, am Ende des Sommers würde er ihre Schenkel anbeten, obwohl er sie nicht mochte. Seltsam verdrehte Erinnerungsfetzen in meinem Kopf.
Im Abaton Kino, es wird 1972 gewesen sein, lief für einige Abende der melancholische Anti-Western McCabe & Mrs. Miller von Robert Altman. Grundthema des Films war unerfüllte Liebe, in dunklen traurig-schmutzigen Bildern, untermalt von Cohen Songs.
In den 1970ern und 1980ern tourte Cohen häufiger Europa. 1974, 1975 und 1979 habe ich ihn im Hamburger CCH gehört. Für mich waren diese Abende begeisternde Erlebnisse, an die ich mich gerne erinnere. Seine Konzerte in der Musikhalle und im Stadtparkt habe ich leider verpasst.
Es ist schon seltsam, welche Bruchstücke unserer Vergangenheit sich in unseren Köpfen festsetzen. In den Großen Ferien 1972 war ich wochenlang mit einem Interrail Ticket durch die Länder Europas unterwegs, das es erstmals in diesem Jahr gab. Hunderttausende Jugendliche fuhren in den Zügen durch unseren Kontinent und lernten sich kennen. Diese Interrail-Tickets haben wohl mehr für ein friedliches und zusammenwachsendes Europa erreicht als die vielen Sonntagsreden der politischen Kaste. In Amsterdam, im Sleep-In in der Rozengracht, lernte ich Marie kennen. Sie lebte in einer kleinen Stadt in Belgien und war in freundliches Mädchen, das mit ihren Freundinnen unterwegs war. Welcher Jugendliche wollte damals nicht nach Amsterdam, dem liberalen Mekka der Jugendbewegung? Lange schrieben wir uns Briefe, denn Email, SMS oder WhatsApp waren noch erfunden. Bis in die Gegenwart haben freundschaftlichen Kontakt. 1973 oder 1974 habe ich sie mit meinem alten VW Käfer zusammen mit einem Schulfreund in Liege besucht, wo sie eine Ausbildung machte. Es war eine schöne Tour. Lange saßen wir nach dem Essen bei Wein mit ihr und einigen ihrer Freundinnen zusammen bis wir alle todmüde waren. Gut erinnere ich, dass sich endlos Cohens LP Live Songs auf dem Plattenspieler drehte. Passing through. In meinen Gedanken kann ich wieder ins dieses Zimmer zurückkehren und mich dazu setzen.
1977 kam die LP Death of a ladies man heraus, produziert von dem umstrittenen Phil Spector, der seit 2009 für Mord in einem Gefängnis sitzt. Diese Platte war eine riesige Enttäuschung. Ein Cohen-untypischer aufgeblasener Sound, mehr als zweimal werde ich in meinem Leben nicht hineingehört haben. 1986 brachte Jennifer Warnes, die mit Leonard Cohen eng befreundet war und in den 1970ern als Backgroundsängerin mit ihm tourte, die LP Famous blue raincoat, the songs of Leonard Cohen heraus, die ein Riesenerfolgt wurde. Schnell gekauft, oft und lange gehört. Im Laufe meines Lebens habe ich dann die meisten von Leonard Cohen offiziell erschienen Alben eingesammelt.
In der Grindelallee, nahe der Uni, nur wenige Meter von Zweitausendundeins entfernt, gab es auch einen kleinen Plattenladen, den ich in den 1990ern für mich entdeckte. Er hatte ein gigantisches Angebot an Non-official Recordings. Viele Hundert Mark werde ich für Bootleg-CDs von Leonard Cohen, Bob Dylan und anderen dort gelassen haben.
Eines der faszinierendsten Lieder von Cohen ist für mich There is a war. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass es im Jahre 2019 einmal eine unglaublich treffende Beschreibung der gesellschaftlichen Gegenwart sein würde. There is a war between the rich and poor, a war between the man and the woman. There is a war between the ones who say there is a war and the ones who say there isn’t. (Lyrics: Leonard Cohen, There is a war).
Teil 5
Die Songs von Leonard Cohen waren über die Jahre in meinem Dasein eigentlich irgendwie immer anwesend, mal mehr, mal weniger, aber zu Anfang des neuen Jahrtausends entdeckte ich seine Songs in einer neuen Tiefe, intensiver als zuvor. Die Jahre nach 2005 waren eine schwierige Zeit in meinem Leben. Krankheit, Trennung, Tod und Teufel umgaben mich. Ohne groß nachzudenken nahm ich die Bearbeitung eines langwierigen Projektes in der tiefsten Provinz in Süddeutschland an, was vor allem den Vorteil hatte, viele Monate außerhalb meines gewöhnlichen Lebens in Hamburg zu verbringen. Es war eine gute Möglichkeit Abstand zu finden, die perfekte Flucht aus einer unerfreulichen Realität. Meine Nächte verbrachte ich in gesichts- und freudlosen Hotelzimmern und Appartements, gefühlt ein wenig wie Leonard im Henry Hudson Hotel in New York. Schlaf brauchte ich nur wenig, Ablenkung umso mehr.
Ich fing an, Bücher mit zeitgeschichtlichem Bezug zu schreiben und entdeckte die archivarische Dimension des Videoportals YouTube. Oft verbrachte ich die Stunden bis zum frühen Morgen mit Herumstöbern nach Musik. Besonders hatten es mir dabei die Helden meiner Jugend angetan: Cohen, Dylan, Judy Collins, Pete Seeger, Tom Paxton, Joni Mitchell, Joan Baez, Beatles, Rolling Stones und so viele andere. Songs, Konzerte, Dokus, Filme. Es gab unglaubliche Mengen an mich begeisterndem Material. Manchmal war es, als durchlebte ich jeweils für Stunden meine Jugend neu.
Besonders in das umfangreiche Material mit und über Leonard Cohen bin ich mit Begeisterung eingetaucht. Viele Schätze gab es dort für mich zu finden. Mit Hilfe von Apples iTunes konnte ich mir ein umfangreiches Musik- und Video-Archiv angelegt. Leider ist im Zuge der zunehmenden Kontrolle und Zensur des Internets vieles mittlerweile nicht mehr auffindbar.
There is a war between the left and right, a war between the black and white, a war between the odd and the even. Why don’t you come on back to the war? (Lyrics: Leonard Cohen, There is a war).
Fasziniert haben mich die Konzertmitschnitte mit Julie Christensen, einer amerikanischen Musikerin, die 1988 bis Mitte der 1990er zusammen mit Perla Batalla mit Leonard Cohen als Back-up Sängerin getourt ist, die für mich eine schmerzhafte Intensität ausstrahlten. Etwa in den Songs Joan of arc und Democracy, zu finden bei YouTube unter (www.youtube.com/watch?v=-JwmIBSMzSM). Unglaublich dicht und beeindruckend.
Ganz besonders aber war und bin ich bis heute begeistert von der CD und der DVD zum Auftritt Cohens auf dem Musikfestival auf der Isle of Wight im August 1970. Dort hatten sich mehrere Hunderttausend Jugendlich versammelt, größer und schöner als Woodstock sollte es werden. Doch als die Organisation zusammenbrach und es zu Konflikten um Eintritt und den Zugang zum Festivalgelände kam, lagen Aggressionen, Gewalt und Unzufriedenheit in der Luft. In Bildern festgehalten auf der DVD Message to love Isle of Wight Festival 1970 von Murray Lerner. Viele Bands und Künstler kämpften während ihrer Sets mit aggressiver Stimmung und Störungen.
Anders erging es Leonard bei seinem nächtlichen Auftritt, zu den der Schauspieler und Musiker Kris Kristofferson später kommentierte: (He) did the damndest thing you ever saw: he charmed the Beast. A lone sorrowful voice did what some of the best rockers in the world had tried for three days and failed .…… I think it was about four o’clock in the morning they went in and woke him up in his trailer and he took a long time to get out to the stage. Everybody had been sittin‘ there in the filth, in their own squalor – half a million people there – for five days. And Leonard finally came out of his trailer and he was wearing his pyjamas…I never have known why they didn’t just hoot him off the stage like they did with a lot of people, especially me! I can only think that he was such an honest performer and didn’t scramble after anybody’s attention. He took his time gettin‘ out there, he took his time tunin‘ up and he wasn’t intimidated by a half million people who’d been very ugly.
Zitate aus: https://en.wikipedia.org/wiki/Live_at_the_Isle_of_Wight_1970_(Leonard_Cohen_album
In der Intro zu seinem ersten Song, Bird on a wire, sagt er, It’s good to be here in front of 600.000 people. (….) It’s a large nation, but it is still weak. Still very weak. It needs be a lot stronger bevor it can claim a right to land. Eine klare Ansage, zu hören auf der Musik CD von Leonard Cohens Auftritt. A man who eats meat wants to get his teeth into something, a man who does not eat meat wants to get his teeth into something else. If these thoughts interest you even for a moment, you are lost. (Cohen, Isle of Wight).
In dieser Zeit entdeckte ich auch die umfangreiche Web Dokumentationen von Christof Graf über Cohen und stöberte endlos darin herum. Https://www.leonardcohenfiles.com und https://www.leonardcohen.de
Teil 6
In den 1990ern konnte ich lesen, dass sich Leonard Cohen als Mönch in das buddhistische Mount Baldy Zen Center in den San Gabriel Mountains nördlich von Los Angeles zurückgezogen hatte und Zen praktizierte. Mehrere Jahre hielt er sich in diesem Kloster auf. Als er Anfang des neuen Jahrtausend in sein früheres Leben zurückkehrte soll er entdeckt haben, dass seine Managerin sein Vermögen in Höhe von mehren Millionen Dollar veruntreut hatte. So ging er 2008 nach über fünfzehn Jahren im Alter von dreiundsiebzig wieder auf Tournee und sollte ein unglaubliches Comeback erleben. In den folgenden sechs Jahren dann gab er fast dreihundert Konzerte.
Freitag, der 25. Juli 2008 war ein heißer Sommertag. Nicht ganz so glühend heiß wie die heutigen extremen Wetterlagen, aber damals war der Klimawandel noch nicht in unserem Alltag angekommen. Frühmorgens hatte ich mein Appartement in Franken verlassen und fuhr stundenlang auf überfüllten Autobahnen mit meinem Mietwagen nach Karlsruhe, wo ich ihn abgab. Von dort ging es mit dem Zug weiter. Mein Ziel lautete Lörrach nahe der Grenze zur Schweiz. Jedoch war ich nicht mit Schwarzgeld oder gar im Drogenbusiness unterwegs, sondern hatte mit viel Glück eine Karte für das abendliche Leonard Cohen Konzert auf dem Marktplatz erbeutet. Zu diesem Zeitpunkt eines von dreien, die er überhaupt in Deutschland geben würde.
Als ich ankam, war ich von der Fahrt in der Gluthitze müde, hungrig und erschöpft. Sachen ins Hotelzimmer geworfen, dann raus, um etwas essbares zu finden. Stattdessen endete ich auf dem Marktplatz, Ort des abendlichen Konzerts, wo Leonard Cohen gerade den Soundcheck durchführte. Es war ein zusätzliches Gratiskonzert, eine tolle Einstimmung auf das, was folgen sollte.
Am Abend dann sang er ausverkauft vor ca. 5.000 Leuten. Im Publikum herrschte eine unglaublich emotionale Atmosphäre. Es war wie ein spirituelles Erlebnis. Auch ich fühlte mich tief bewegt und berührt, als ob meine Jugend und mein Leben an mir vorbeizogen würden. Am Ende der drei Stunden, nach den Zugaben, sagte Cohen zum Abschied, Thank you friends, for this memorable evening. We won’t forget! Festgehalten in einem Review von Kristina Engel auf den Seiten von Christof Graf.
Ein letztes Mal hörte ich Leonard dann zwei Jahre später 2010 live in Hamburg. Passing through, passing through. Sometimes happy, sometimes blue, glad that I ran into you. Tell the people that you saw me passing through. (Lyrics: Leonard Cohen, Passing through).
Denke und blicke ich zurück, verschmilzt mein Bild von Leonard Cohen immer mehr mit dem meines Großvaters, den Vater meines Vaters. Meine Großeltern sind die einzigen positiven Erinnerungen in meiner Familiengeschichte sollte ich vielleicht dazusagen. Meinen Opa erinnere ich so wie ich Leonard erinnere, nicht nur, weil es eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit gibt: meist in Schwarz gekleidet, freundlich, respektvoll, würdevoll.
Über den Autor
Jahrgang 1951, Sozialwissenschaftler, Buchautor, Veröffentlichungen: Kinder der Verlierer, Nachkriegsland, Looking for Bob Dylan.
Webseiten: www.michael-brenner.de, www.nachkriegsland.de und www. lookingforbobdylan.de